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Der Löwe und die Maus


Es war einmal ein Löwe auf einem Berg, der einem Panther begegnete, dessen Haut abgezogen war. Der Panther, halbtot, erklärte dem Löwen, dass ein Mensch dafür verantwortlich war. Nach seinem Bericht warnte der Panther den Löwen mit den Worten: „Mögest du nicht auf einen Menschen treffen; mögest du ihm nicht ausgeliefert sein, dem Menschen.

 

Als der Löwe das hörte, wurde er zornig auf die Menschen und suchte nach ihnen. Unterwegs traf er auf ein Pferd, das herumkreiste; auf einen Esel, der eine Haltevorrichtung im Maul hatte; auf einen Stier, dessen Hörner gestutzt waren; auf eine Kuh, deren Nüstern durchbohrt waren; auf einen Bären, dessen Klauen gezogen und die Reißzähne ausgerissen waren und auf einen anderen Löwen, der verletzt an einem Baum lag.

 

Alle berichteten, dass der Mensch an ihrer misslichen Situation schuld war und wiederholten die Warnung des Panthers. Der Löwe schwor sich deshalb: Oh Mensch, wenn du mir ausgeliefert wärest, würde ich dir das gleiche Leid antun, das meine Gefährten durch dich erfahren haben.

Auf seinem weiteren Weg traf der Löwe, inzwischen sehr hungrig geworden, auf eine Maus. Als er sie fangen und fressen wollte, sprach die Maus den Löwen an und es entwickelte sich eine Diskussion zwischen beiden:

    „Die Maus sprach: „Oh nein, mein Herr Löwe, wenn du mich frisst, wirst du nicht satt werden. Falls du mich freilässt, wird sich an deinem Hunger auch nichts ändern. Wenn du mir aber meinen Atem als Geschenk gibst, werde ich dir deinen eigenen Atem als Geschenk geben. Wenn du mich vor dem Verderben rettest, werde ich dich deiner Gefahr entkommen lassen“.

 

Der Löwe lachte und fragte: „Was könntest du letztlich für mich tun? Gibt es einen auf Erden, der mir etwas anhaben könnte?“ Die Maus aber schwor ihren Eid: „Ich werde dich deiner Gefahr entkommen lassen, wenn sie eintritt.“ Der Löwe überlegte: „Wenn ich die Maus fresse, werde ich nicht sehr satt“ und gab der Maus die Freiheit.“

Der Löwe, der anschließend seine Suche nach den Menschen fortsetzte, fiel in eine Fallgrube, die ein Jäger ausgehoben hatte. Eine Flucht war nicht möglich. Der Löwe wurde von seinem Jäger in ein käfigartiges Gebilde gelockt und anschließend nach oben gezogen. Dort angekommen, wurde der Löwe mit Lederriemen in einem käfigähnlichen Geflecht gefesselt. Das Schicksal wollte dem überheblichen Löwen wohl eine Lektion erteilen, denn als der Löwe bekümmert und fluchtunfähig auf dem Berg lag, erschien zur siebten Nachtstunde die vom Löwen freigelassene Maus vor ihm.

    „Die Maus sprach: „Erkennst du mich? Ich bin die kleine Maus, der du ihr Leben als Geschenk gegeben hast. Ich bin gekommen, um dich aus deiner Gefahr zu retten. Gut ist es eine Wohltat dem zu tun, der sie wiederum tut.“ Die Maus setzte ihre Schnauze an die Fesseln des Löwen und durchkaute das frische Leder. Sie versteckte sich danach in der Mähne des Löwen, der mit ihr zum Berg aufsprang.

 

Die kleine Maus, wie es nichts Schwächeres auf dem Berg gibt, die dem Löwen, wie es nichts Stärkeres auf dem Berg gibt, eine Wohltat des Schicksals als Wunder gab.“

– „Der Löwe und die Maus“ aus dem demotischen Papyrus „Heimkehr der Göttin“


Der Löwe und die Maus ist eine Tierfabel, die im Rahmen einer altägyptisch-demotischen Erzählung im Papyrus Die Heimkehr der Göttin geschildert wird.

 

Die Fabel zeigt starke Parallelen zu der Äsop-Geschichte Der Löwe und das Mäuschen. Im Gegensatz zu der Äsop-Erzählung besitzt die altägyptische Fabel eine vorher einsetzende Handlung, die sich dem unheilvollen Einfluss des Menschen widmet, wobei sich die Maus später als Retter des Löwen erweist, der von einem Jäger in einer Fallgrube gefangen wurde.

 

Die Fabel wurde in mehreren demotischen Fassungen niedergeschrieben, die aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. stammen. Daneben liegt noch eine spätere Überlieferung in griechischer Sprache aus dem dritten Jahrhundert n. Chr. vor, die wahrscheinlich die demotischen Vorlagen als Grundlage hatte. Die Erzählung fußt jedoch auf einer älteren Vorlage, deren Abfassungsdatum schwer einschätzbar ist.

Einige ältere Sprachformen, die der Schreiber dem Leser wegen der Unverständlichkeit erklären muss, lassen die Möglichkeit zu, dass Teile des Originaltextes bis in die Zeit des Neuen Reiches (1550 v. Chr. bis 1070 v. Chr.) zurückreichen. Gestützt wird diese Annahme durch ein ramessidisches Ostrakon, auf welchem Inhalte der Tierfabel Die zwei Schakale niedergeschrieben waren, die ebenfalls einen Bestandteil der Erzählung Die Heimkehr der Göttin darstellte.